Medienethik zwischen Anspruch und „Wirklichkeit“

17.09.2008

Zur Diskrepanz zwischen Idealnormen und der Praxis journalistischer Berichterstattung


Christian Schicha, Mediadesign Hochschule Düsseldorf

Eine zentrale Demokratie stabilisierende Aufgabe besteht darin, Öffentlichkeit herzustellen, Probleme und Missstände aufzuzeigen und die Mächtigen zu kontrollieren. Doch wo liegen hier die moralischen Grenzen? Was ist angemessen und wo beginnt das fragwürdige Spektakel? Ein aktuelles Beispiel dokumentiert die Problematik. Anfang Juni 2007 wurde auf dem niederländischen Sender BNN eine sogenannte Nierenshow ausgestrahlt, bei der drei auf einen Spenderniere angewiesene kranke Patienten sich um eine Niere „bewarben“, die von der angeblich unheilbar kranken Spenderin Lisa zur Verfügung gestellt werden sollte. Die „Todkranke“ wurde unter dem johlenden Applaus des Publikums begrüßt und die potentiellen Empfänger kämpften nach Kräften um die Sympathie der „Spenderin“ und des Fernsehpublikums, das sich per SMS an der Abstimmung beteiligen konnte.

Das Ganze war ein großer Bluff. Kurz, bevor die Wahl des „Gewinners“ der Niere verkündet werden sollte, klärte der Moderator die Zuschauer darüber auf, dass es sich bei der angeblich todkranken Person um eine gesunde Schauspielerin handelte und dass die tatsächlich nierenkranken „Kandidaten“ darüber im Vorfeld der Sendung bereits aufgeklärt worden sind. Das Ziel – so die Macher der Show – bestand darin, mit drastischen Mitteln auf die Problematik der abnehmenden Organspendebereitschaft in den Niederlanden aufmerksam zu machen. Vordergründig war die Aktion ein Erfolg. Noch während der Sendung haben mehrere Tausend Zuschauer einen Organspenderausweis beantragt. Dennoch stellt sich die Frage, ob hier der „Zweck die Mittel heiligt“. Ist es moralisch angemessen, durch eine derart spektakuläre Inszenierung die Aufmerksamkeit auf einen Missstand zu lenken? Oder ist bei einem derart sensiblen Thema gerade ein hoher Grad an Seriosität im medialen Umgang erforderlich? Oder erzwingt die Ökonomie der Aufmerksamkeit bisweilen den kontrollierten Tabubruch, um Gutes zu bewirken? Die Meinungen waren nach Ausstrahlung der Sendungen geteilt. Es stellt sich die Frage, nach welchen moralischen Kriterien derartige Sendungen beurteilt werden sollen.

Der Ruf nach einer Medienethik wird immer dann laut, wenn mediale Ereignisse zur öffentlichen Empörung geführt haben. Medienwächter sollen dann aktiv werden, wenn Jurymitglied Dieter Bohlen die Kandidaten bei der RTL-Casting-Show „Deutschland sucht den Superstar“ beleidigt, die Muhammed-Karikaturen oder die Comic-Serie „Popetown“ wahlweise muslimische oder christliche Gefühle verletzen oder ein Schüler nach der Nutzung von gewalttätigen Computerspielen einen Amoklauf startet. Die Forderung nach einer wirksamen Medienkontrolle kollidiert dabei jedoch auch mit dem grundgesetzlich verankerten Zensurverbot und der Konsumentensouveränität.

Auf der Suche nach einem angemessenen Umgang mit den unterschiedlichen Formen und Ausprägungen medialer Angebote soll die Medienethik als Form der angewandten Moralphilosophie einen systematischen Beitrag zur Beurteilung potenzieller moralischer Verfehlungen leisten und sich dabei auf ein philosophisch fundiertes Kategoriensystem beziehen, das normative Kriterien für den angemessenen Umgang mit Medieninhalten formuliert und klare Verantwortungszuschreibungen vornimmt.

Die Disziplin der Medienethik wird zur Sensibilisierung und Verantwortungszuschreibung herangezogen, um Defizite im Bereich der Medienangebote, der Mediennutzung sowie der Programminhalte aufzuzeigen. Sie soll alternative Handlungskonzepte anbieten, anhand derer die Qualität und moralische Angemessenheit medialen Handelns bewertet werden können.

Es existieren fiktionale Formate, zu denen Kino- und Fernsehfilme gezählt werden, die drehbuchgestützte Geschichten erzählen, in denen u.a. Gewaltdarstellungen gezeigt werden, die dann wiederum aus medienethischer Perspektive speziell für den Jugendschutz relevant sind. Auch Computerprogramme wie „Counterstrike“ haben aufgrund ihrer brutalen Spielszenen öffentliche Debatten über Verbote hervor­gerufen, da einige Nutzer auch im realen Leben Gewalt ausgeübt haben. Die Problematik derartiger Diskurse besteht darin, dass monokausale Erklärungen für derartige Gewalttaten abgegeben werden, die diese allein auf das Medienverhalten zurückführen und der faktischen Komplexität der individuellen und gesellschaftlichen Zusammenhänge nicht gerecht werden. Das Hauptaugenmerk des folgenden Textes bezieht sich jedoch auf die Medienberichterstattung im journalistischen Kontext.

Die öffentliche Debatte über Ethik der Medienberichterstattung wird primär geführt durch die Beobachtung und Analyse alltäglicher Defizite im Medienspektrum und spektakulärer journalistischer Fehlleistungen u.a. in Form der Fälschung von Presseprodukten, der Manipulation von Fotoaufnahmen, durch Zensurmaßnahmen, bei der Verletzung des Persönlichkeitsschutzes von Prominenten und von Angehörigen bei Unglücken und Katastrophen sowie der unkritischen „Hofbericht­erstattung“ (vgl. Brosda & Schicha 2000, Kreymeier 2004).

Den vollständigen Artikel finden Sie hier:

schichamedienethikfokus_2-08(2)