Trends: Der Wetterbericht der Kultur
04.01.2012
Ende der 60er Jahre hatte ein Fünfzehnjähriger im Norden Londons Ärger mit seinem Lehrer an der katholischen Schule: „Du darfst morgen nicht wieder kommen, wenn du keine Krawatte trägst!“ sagte dieser zu ihm. Also trug John am nächsten Tag eine Krawatte, jedoch sonst nichts. Auf die Fassungslosigkeit seines Lehrers reagierte er gelassen: „Sie sagten doch, ich müsse eine Krawatte tragen, entscheiden Sie sich bitte!“. [1]
Der Junge hieß mit bürgerlichem Namen Johnny Lydon, heute eher bekannt unter dem Pseudonym Johnny Rotten, ehemaliger Sänger der Punk-Band Sex Pistols. Rotten war begabt, beliebt und interessierte sich für Musik und Mode. Gemeinsam mit seinen Freunden Sid Vicious und später auch Vivienne Westwood fing er an, an Pullovern und Anzügen herum zu schnippeln und diese mit Sicherheitsnadeln wieder zusammen zu flicken. Sie ergänzten die Modelle um Elemente aus Müllsäcken und dem Look der Straße – nur die Krawatte durfte nicht fehlen. Johnny Rotten und Sid Vicious trugen diese dekonstruktivistischen Eigenkreationen mit kavaliersmäßiger Würde und antworteten auf zahlreiche Fragen damit, Sie hätten ihre Inspiration bei den Obdachlosen gefunden. Vicious, Rotten und Westwood brachen Regeln, indem sie diese umgingen, um damit deren sinnlosen Gestus offen zu legen. Sie stellten Kleiderordnungen auf den Kopf und zwar mit einer Phantasie und Kraft, die alle anderen alt aussehen ließ. Sie lösten mit ihrem Look und ihrer Musik einen Trend aus, der sich zwar im Laufe der Zeit änderte, jedoch bis heute nachhaltigen Einfluss auf alle Bereiche unserer Gesellschaft ausübt. Das macht deutlich, dass ihre Zerstörungsarbeit mehr war als ein pubertärer Rausch. Sein Maximum an Kraft erreicht der aktive Nihilismus laut Nietzsche in der Gewalt der Zerstörung. Doch nur bei einer Fülle des Geistes kann darin Großes entstehen.[2] Ansonsten kippt die Aktion um in schöpferische Allmacht. Ein Trend ist eine Auffassung der Gesellschaft, der eine neue Bewegung auslöst. Ihre Anführer werden Trendsetter genannt. Rotten, Vicious und Westwood waren Trendsetter des Lebensgefühls Punk. Dieses bestand aus einer Mischung von Wut, Weltschmerz, Verletzlichkeit und traf damit eine gesamte Generation junger Menschen mitten ins Herz. Sie deinstallierten bürgerliche Symbole und installierten damit die zentrale Grundhaltung des Punks. Echte Trends werden auf der Straße gemacht, nicht in Studios oder am Schreibtisch. Wer einem Trend folgt, glaubt seine Lebensformel, seine eigene Formel gefunden zu haben. Mit Trends meint man es ernst: Sie präsentieren unsere Versessenheit auf Selbstverwirklichung. Punk wurde binnen kürzester Zeit so populär, dass Vivienne Westwood hohe Preise für ihre Kollektionen verlangen und sich einen festen Platz in der Modegeschichte sichern konnte. Die Welle der Vereinnahmung der Symbolik vollzog sich rasant und griff immer weiter um sich. Jedes Warenhaus führte plötzlich Hosen mit Schnallen und used-Optik im Sortiment. Art-Direktoren tragen Schottenhosen in Punk-Optik und die lässig gebundene Krawatte lässt offen, ob man sie ironisch oder im Ernst trägt. Das Coole, verpackt in ein konsumierbares Produkt, hat vor allem großen Erfolg bei denjenigen, deren Leben und Arbeit keinen Raum mehr für eigene Coolness lässt. Die Generation von damals ist heute erwachsen geworden und Dinge, die eine Zeit lang out waren, sind plötzlich wieder in. Und doch hat sich dabei etwas verändert: Trends kehren wieder, aber das Repertoire der Vergangenheit wird dabei immer neu kombiniert, es findet sozusagen ein Recycling der Zeiten statt. Aber auch das linke Denken ist zahmer geworden. Die Punks von einst sind vom radikalen Protestmilieu in die Mitte der Gesellschaft gewechselt und treffen das Lebensgefühl des heutigen Bildungsbürgertums. Was sie sympathisch erscheinen lässt ist, dass sie ihre Bürgerlichkeit erst so spät erworben haben und ihre Sorge, als spießig gelten zu können, weil man nun einer Mehrheit angehört. Ist es möglich, einer Mehrheit anzugehören und damit trotzdem voll im Trend zu liegen? Ja! Aus wirtschaftlicher Sicht ist das sogar notwendig, wenn man mit diesem gute Umsätze generieren möchte. Die heutigen Bioprodukte zum Beispiel haben ihren schmuddeligen Öko-Look der Anfangsphase längst abgelegt und sich zu hochwertigen Markenartikeln gemausert und so das Image des „Ökos“ grundsätzlich verändert. Das Hybridauto und nachhaltig korrekt produzierte Markenkleidung sind zum Statussymbol avanciert. Und das Wunderbare dabei ist, dass man so im Akt des Konsumierens gleichzeitig auch Gutes tut. Für Trends gilt also allgemein, dass man sie nicht nur mitmachen kann, sondern damit auch einen Unterschied machen muss. Die Medien betiteln Nachhaltigkeit als den Megatrend des neuen Jahrtausends und kaum mehr ein Unternehmen kann es sich leisten, auf verantwortungsbewusste Produktionstechniken zu verzichten. Was dabei oft in den Hintergrund tritt ist, dass Nachhaltigkeit mehr ist als nur ein Trend. Dingen, denen man Trendlastigkeit zuspricht, leiden oft automatisch an der Glaubwürdigkeit. Man unterstellt ihnen bis zu einem gewissen Grad - oft unberechtigter Weise - Unreife oder Oberflächlichkeit. Massenmedien konsumieren Themen, indem sie Neuerungen spiegeln, sie verstärken und abfackeln. Rasch sinkt so die Innovation einer bestimmten Szene zum Massenprodukt ab und wird fallen gelassen unter dem Verdacht, keinen Raum mehr für Individualität zu bieten. 24 h youtube, facebook und andere Social-Web-Plattformen im Internet geben einen genauen Überblick über die authentischen Formen von Trends und beweisen, dass fast jede Spielart in Echtzeit kommerzialisiert werden kann. Aber wie lässt sich der neueste Trend-Artikel am besten unter die Konsumenten bringen? Werbung im Fernsehen ist klar erkennbar als solche und nimmt dem Produkt das gefühlte Insidertum. Werbung funktioniert vor allem dann am Effektivsten, wenn sie nicht unmittelbar als solche zu dechiffrieren ist. Virales Marketing ist zur Zeit ein heiß begehrtes Instrument im Internet. Dabei hofft der Hersteller des Viral-Spots auf eine epidemische Verbreitung durch persönliche Empfehlung und Weiterleitung á la „die Menschen treffen auf etwas, finden es interessant und gut und schicken es weiter.“[3] Eine Wissenschaft der Zukunft gibt es leider nicht, aber es gibt Trendforscher. Diese geben Phänomena einen Namen, da Sachverhalte für Menschen erst dann sichtbar werden, wenn sie benannt werden. Sobald jedoch ein Trend benannt und erforscht bzw. fassbar geworden ist, ist er bereits wieder out, also verschwunden. Um also relevante Thesen nennen zu können, ermitteln Trendforscher immer jenseits der Fakten und Zahlen. Sie lesen aus dem Kaffeesatz der kulturellen Gegenwart mögliche Tendenzen für die Zukunft voraus. Trendforschen ist also – ähnlich wie auch die Wettervorhersage – immer mit einer Konstante der Unsicherheit verbunden und birgt trotz vielfacher Studien immer noch ein großes unternehmerisches Risiko. Trotzdem sind Trends der Antrieb für Kultur und Wirtschaft, denn auch für sie gilt die einfache Prämisse: „no risk – no fun!“ 1 Ulf Poschadt; Anpassen. Seite 259 Kapitel „no future mit zukunft – punk“, Verlag Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, 1. Auflage April 1998 2 Politische Philosophie des Nihilismus (Monographien and Texte Zur Nietzscge-) von Jin-Woo Lee (Gebundene Ausgabe, 1. Oktober 1992) Gruyter Verlag. 3 Guido Heffels, Kreativdirektor Heimat Werbeagentur, Berlin in einem Interview mit dem NDR, 30. März 2009