Sao Paulo: Seit 10 Jahren eine Stadt ohne Werbung.
01.07.2016
Ist eine Großstadt ohne Werbetafeln und Plakate vorstellbar? Ein urbaner Ort ohne jegliche Außenwerbung an Häusern, Haltestellen oder auf Taxis, Bussen und Straßenbahnen? Tatsächlich existiert eine solche Stadt in Brasilien in der man vor zehn Jahren einen radikalen Schritt unternahm: die Verbannung sämtlicher Werbebotschaften aus dem öffentlichen Raum.
Vor dem Jahr 2006 waren die Straßen von Sao Paulo, der größten Stadt Südamerikas, überfüllt von Werbung. Kaufbotschaften auf Häuserwänden, an Bushaltestellen, Geschäften und sogar an privaten Wohngebäuden konkurrierten mit einer Vielzahl von Plakatwänden und Aufstellern auf den Straßen um Aufmerksamkeit. Nachts leuchteten die Reklametafeln und Neonschriftzüge taghell in die angrenzenden Schlafzimmer der Stadtbewohner (vgl. O’Shaughnessy, 2009). Im Gegensatz zu anderen Werbeformen konnten die 11 Millionen Einwohner den Plakaten und Bannern im öffentlichen Raum nicht ausweichen. Es gab einfach keinen Ausschaltknopf wie beim Werbefernsehen oder bei der Radiowerbung.
Doch zu Beginn des Jahres 2006 schockierte der Bürgermeister von Sao Paulo, Gilberto Kassab, die Werbebranche seiner Stadt, indem er Werbung im gesamten Stadtgebiet verbieten ließ (vgl. Penteado, 2007). Seither ist Sao Paulo die weltweit erste Metropole ohne aufdringliche Poster, Werbebanner und Leuchtreklame.In einem Interview äußerte sich Kassab wie folgt zu seinen Beweggründen:
„Unsere Philosophie ist, dass Umweltverschmutzung auch in den großen Städten bekämpft und durchaus besiegt werden kann. In Sao Paulo zählt sie zu den größten Problemen – auch die visuelle Umweltverschmutzung, welche die Stadt regelrecht verschluckt. Doch jetzt räumen wir auf und sagen: Schluss damit! Die Präfektur tut das ohne jegliche Hemmungen, hat die Sympathie der Öffentlichkeit, der Medien. Ich hoffe, wir werden bei diesem Kreuzzug siegreich sein und der ganzen Welt ein Beispiel geben. Wir wollen nicht mehr diese aggressive, unlautere, gewaltsame, aufgezwungene Propaganda, die doch alle attackiert!“ (Hart, 2007).
Die Reaktionen auf diesen Schritt fielen gemischt aus. Städteplaner, Architekten und Umweltschützer feierten das Gesetz, welches ihrer Ansicht nach die Stadt dem Ideal einer urbanen Utopie näher bringe (vgl. Rother, 2006). Dieser Erlass sei ein seltener Sieg des öffentlichen Interesses über das Private, der Ordnung über das Chaos, der Ästhetik über die Hässlichkeit und der Sauberkeit über den Müll, schrieb der Stadtchronist Roberto Pompeu de Toledo (vgl. Burgoyne, 2007).
Die Vereinigung der Brasilianischen Werbewirtschaft stand dem Gesetz zur „sauberen Stadt“ naturgemäß sehr kritisch gegenüber. Die freie Meinungsäußerung würde eingeschränkt, Arbeitsplätze gingen verloren. Zudem werde die Sicherheit auf den Straßen durch die fehlende Beleuchtung von Reklameschildern aufs Spiel gesetzt, argumentierten die Werbefachleute (vgl. Bollier, 2007). Die Bürger Sao Paulos begrüßten demgegenüber das Gesetz und konnten die Empörung der Werbeindustrie kaum nachvollziehen. 70 Prozent der Einwohner sprachen sich bei einer Umfrage im Jahr 2011 für das Verbot aus. (vgl. Metzler, 2014).
Aktuell ist Sao Paulo nicht mehr völlig frei von Werbung. Fünf Jahre nach dem „Saubere Stadt“-Erlass, begann die Verwaltung Werbung schrittweise und streng kontrolliert erneut zuzulassen. Anstatt die früheren Werbeflächen einfach wieder für die Privatwirtschaft zu öffnen, wählte Sao Paulo ein methodisches Vorgehen, welches den Nutzen für die Bürger im öffentlichen Raum in den Vordergrund stellt (vgl. Mahdawi, 2015). So berichtet die Werbefachfrau Janaina Silva in einem Interview mit dem britischen Guardian: „Heute ist die Werbung im Stadtbild viel organisierter als früher. An einigen Bushaltestellen stehen interaktive elektronische Werbetafeln von Google, bei denen man Suchanfragen durchführen oder sich einfach über das Wetter informieren kann. Das empfinden die meisten Pendler als sehr nützlich.“ (vgl. ebd.). Mit dem Außenwerber JCDecaux vereinbarte Sao Paulo beispielsweise einen Vertrag über den Betrieb von über 1000 öffentlicher Uhren im Stadtbild, auf deren Anzeigen ein dezenter Sponsorenhinweis angebracht werden durfte (vgl. ebd.).
Trotz des Erlasses zur „sauberen Stadt“ ist auch zehn Jahre danach das Interesse der Werbungtreibenden am öffentlichen Raum nicht geringer geworden. Die strengen Werbebeschränkungen in Sao Paulo vermindern zwar grelle Plakatwände, welche allein auf die rasche Erregung von Aufmerksamkeit abzielen, aber Marken finden dafür dennoch immer neue Wege sich in das Bewusstsein zu hieven und Teil der alltäglichen Umgebung zu werden. Über Smartphones bekommt man mittlerweile an jedem Ort Werbung angeboten. In der Stadt London laufen gegenwärtig Versuche mit einer in Stadtmöbeln integrierten Technologie, welche die Telefone von vorübergehenden Passanten erkennt, um ihnen dann personalisierte Werbung zu senden (vgl. Mahdawi, 2015). Wenn Technologie somit ermöglicht, dass Werbeanzeigen überall und jederzeit existieren und empfangen werden können, sind Plakatwände ein vergleichsweise geringes Problem, mit dem sich Verwaltung und Bürger einer Stadt heute auseinandersetzen müssen.
Quellen:
Bollier, David: Sao Paulo: The Advertising-Free City. www.Bollier.org, 23.04.2007.
Burgoyne, Patrick: Sao Paulo – The City that said no to Advertising. www.Bloomberg.com. 18.06.2007.
Hart, Klaus: Kreuzzug gegen visuelle Verschmutzung. www.Deutschlandradio.de, 09.01.2007.
Mahdawi, Arwa: Can cities kick ads? Inside the global movement to ban urban billboards. www.Guardian.co.uk, 12.08.2015.
Metzler, Beat: Wenn die Werbung weg ist. Warum ein Plakatverbot im öffentlichen Raum die Städte schöner macht. www.Tagesanzeiger.ch, 01.12.2014.
O’Shaughnessy, Hugh: The city that went to war on advertising. www.Independent.co.uk, 08.11.2009.
Penteado, Claudia: A Sign of Things to Come? Sao Paulo’s Billboard Ban Made History. www.Adage.com, 01.10.2007.
Rother, Larry: Billboard Ban in Sao Paulo angers advertisers. www.Nytimes.com, 12.12.2006.