Der Prozess der Bekleidungsentwicklung aus der Designmanagement und der Engineering-Perspektive

18.11.2021

Seit Menschen sich dazu entschieden haben, ihre Körper zu bedecken, zu verhüllen und oder zu schmücken, beschäftigen sie sich mit der Entwicklung von Bekleidung. Dabei haben sich im Laufe der Jahrtausende unterschiedliche Methoden und Herangehensweisen bei der Entwicklung von Bekleidung herausgebildet. Durch technologischen Fortschritt und sich ändernde Bedürfnisse der Träger von Bekleidung, haben sich auch die Herausforderungen an die technische Bekleidungsentwicklung im Laufe der Zeit verändert. Der Prozess der Bekeidungsentwicklung kann in Anlehnung an die VDI-Richtlinie 4520 Blatt 1 aus einer Design Management- und einer Engineering-Perspektive betrachtet werden. Dies hat den Vorteil, dass sämtliche Prozesse - auch die, die das Unternehmen welches die Bekleidung entwickelt betreffen - sowie die Prozesse, die den für das Produkt relevanten Markt betreffen, bei der Produktentwicklung berücksichtigt werden. Dies bietet wiederum die Chance einer nachhaltigen Gestaltung wirklich aller Prozesse der Entwicklung von Bekleidung. Ein Unternehmen hat ein bestimmtes Geschäftsmodell zugrunde gelegt, um Bekleidung zu entwickeln und zu vermarkten. Dieses Geschäftsmodell gründet auf eine Idee, die sich in einem Businessplan darstellen lässt. Ein Unternehmen, welches Bekleidungsprodukte entwickelt und herstellt, stellt in der Regel nicht ein einziges Produkt her, sondern eine ganze Menge unterschiedlicher Bekleidungsprodukte, die als „Kollektion“ bezeichnet werden. Die Produktentwicklung ist aus Sicht oder Perspektive des Design Managements in eine strategische und eine operative Phase aufzuteilen. Für eine zu entwickelnde Kollektion wird in der strategischen Phase zunächst eine „Vision“, ein „Purpose“ oder Zweck, die Botschaft und auch das Corporate Product Design erstellt. Hier werden Kollektionsaussage und die sogenannte „Handschrift“ festgelegt. Im Idealfall ist eine entsprechende Marktanalyse vorangestellt, um festzustellen, ob es für diese Produktvision, diese Kollektionsausrichtung überhaupt eine potenzielle Käuferschicht gibt. In einem nächsten Prozess-Schritt wird dann entsprechend die Produkt-Markt-Strategie erstellt. Dabei wird überlegt, wie die Kollektion in den Köpfen der Konsumenten wahrgenommen werden soll, also wie die Kollektion positioniert werden soll. Im Rahmen der Positionierung wird ebenfalls geklärt, inwieweit die Bekleidungsstücke als Markenprodukte wahrgenommen werden sollen und welche Aussagen über die Kollektion in die relevanten Märkte (den potenziellen Konsumenten) kommuniziert werden sollen. Idealerweise beginnt die operative Kollektionsentwicklung erst dann, wenn die strategische Phase abgeschlossen ist . In der operativen Kollektionsentwicklung wird in einem nächsten Prozess-Schritt festgelegt, wie viele einzelne Bekleidungsmodelle aus den verschiedenen Produktgruppen in welcher Preislage zu welchem Liefertermin entwickelt und bereitgestellt werden sollen. Bekleidungsprodukte werden in verschiedene Produktgruppen´, die ähnliche Charakteristiken aufweisen, aufgeteilt. Dabei wird häufig nach Herstellungsverfahren und/oder ähnlichen Produktmerkmalen klassifiziert, z. B. „Strick“, „Shirt“, „Blusen/Hemden“, „Hosen“, „Röcke“, „Blazer/Indoorjacken“, „Mäntel“ und „Outdoor“. Im nächsten Prozess-Schritt werden dann konkrete Entwürfe für die einzelnen Bekleidungsstücke oder -modelle erstellt. Es werden für jedes einzelne Modell aller  Produktgruppen die jeweiligen Ausprägungen festgelegt. Diese Ausprägungen werden schriftlich, möglichst intersubjektiv nachvollziehbar dokumentiert. In einem weiteren Prozess-Schritt werden dann die anhand der Dokumentationen /Modellbeschreibungen erstellten Musterteile so lange anprobiert und verändert, bis sie zur Serienfertigung freigegeben werden können. Diese beiden letzten Prozess-Schritte stellen aus Design Management-Perspektive den Prozess der Produktentwicklung dar. Aus der Engineering-Perspektive stellt sich der Prozess der Entwicklung von Bekleidung folgendermaßen dar: Zum Design Management parallel stattfindende Aktivitäten sind im Rahmen der strategischen Kollektionsentwicklung alle Aktivitäten, die mit der Entwicklung von Geschäftsmodellen, mit Innovationsmanagement respektive Entrepreneurship verbunden werden. Hier wird überlegt, welche Technologien gemanaged und welche Grundlagen geschaffen werden müssen, um ein tragfähiges Geschäftsmodell zu entwickeln und einen entsprechenden Businessplan zu erstellen. Die Erstellung eines Businessplans kommt an dieser Stelle einer sogenannten „Machbarkeitsstudie“ sehr nah, bei der festgestellt werden soll, ob eine Unternehmung technisch realisierbar und ökonomisch sinnvoll ist. Dieser Input geht dann in den Design Management Prozess. Ebenfalls der Engineering-Perspektive wird auch der technische Produktentwicklungsprozess zugeordnet: Ausgehend von der technologischen Machbarkeit werden mit den zur Verfügung stehenden Mitteln die einzelnen Bekleidungsstücke – je nach Herstellungsverfahren – entsprechend entwickelt oder konstruiert und es werden Prototypen oder sogenannte Erstmuster angefertigt. Die Protosamples werden dann gemeinsam mit dem Design anprobiert, beurteilt und gegebenenfalls abgeändert. Die Ergebnisse dieser Anproben/Fittings fließen dann in die weiteren anzufertigen Muster (Verkaufsmuster oder Salesman Samples, je nach Geschäftsmodell) und in die Produktionsmuster mit ein. Technische Dokumentationen (die Informationen enthalten, die zur Produktion oder Serienfertigung benötigt werden) werden erstellt im Rahmen der sogenannten Arbeitsvorbereitung oder Produktionsvorbereitung. Dann ist der Prozess der Bekleidungsentwicklung zunächst einmal abgeschlossen. Der oben beschriebene Prozess der Bekleidungsentwicklung stellt sich also wie in folgender Abbildung aufgeführt dar:

Der Prozess der Bekleidungsentwicklung aus der Designmanagement und der Engineering-Perspektive
Der Prozess der Bekleidungsentwicklung - eigene Darstellung nach VDI Richtlinie (Januar 2017) Produktmanagement: Einführung und Grundlagen. VDI 4520 Blatt 1 Bild 2, S.13

Bei genauerer Betrachtung der Prozesse der tatsächlichen Produktentwicklung aus der Design Management-Perspektive und aus der Engineering-Perspektive wird deutlich, dass ein iterativer, das heißt in diesem Zusammenhang ein aufeinander aufbauender wechselseitiger Input stattfindet. Dazu müssen Informationen festgehalten und ausgetauscht werden. Diese auszutauschenden Informationen beziehen sich auf das Produkt, sie werden als Spezifikationen bezeichnet. Die Informationen, die aus dem Produktentwicklungsprozess des Designs kommen, werden als „Design Specs“ bezeichnet, eine Abkürzung für Design Specifications. Die Informationen, die aus der technischen Produktentwicklung kommen, werden als „Tech Packs“ bezeichnet. Sowohl Design Specs als auch Tech Packs enthalten Visualisierungen und Beschreibungen. Bei den Design Specs können Visualisierungen in Form von Drapagen, Entwurfsskizzen auf Papier (die sind in der Regel zweidimensional), Entwurfsskizzen, die mit Hilfe von Zeichenprogrammen am Computer entwickelt wurden (CAD in 2D) oder auch virtuelle Entwürfe, die am Computer dreidimensional dargestellt werden, zum Einsatz kommen. In den Beschreibungen der Design Specs finden sich in der Regel wesentliche Angaben zum Modell und auch relevante Maße für Erstmuster in der Erstmustergröße, wie z. B. Längen und Weitenangaben der wichtigen Strecken. Ebenso werden in den Design Specs Oberstoffe/Garne und sichtbare Zutaten festgelegt. In den Tech Packs finden sich in der Regel technische Zeichnungen der Bekleidungsmodelle, zum Beispiel auch zweidimensional auf dem Papier oder zweidimensional mit Hilfe des Computers gezeichnet, oder aber auch dreidimensionale, am Computer erstellte Simulationen der Modelle. In den TechPacks werden im Rahmen der technischen Produktentwicklung sehr detaillierte Modellbeschreibungen verfasst. Diese werden ergänzt um detaillierte Arbeitsanweisungen und komplette Maßtabellen für die verschiedenen Größen, in denen das Modell später produziert werden soll. Die aufeinander aufbauende Fortschreibung der Informationen lebt von dem wechselseitigen Informationsaustausch zwischen dem Design und der technischen Produktentwicklung, der meist in Form von dokumentierten Anproben oder auch Fittings abläuft. Diese Anproben können mittlerweile sowohl physisch als auch digital stattfinden, je nach gewählter Methode der Informationsverarbeitung. Dabei ist die Bereitstellung und Pflege von Informationen, das sogenannte Produkt-Daten Management (PDM) für den gesamten Lebenszyklus von Bekleidung von besonderer Bedeutung.

Der Prozess der Bekleidungsentwicklung aus der Designmanagement und der Engineering-Perspektive
Der Produktentwicklungsprozess aus Designmanagement- und Engineering-Perspektive - eigene Darstellung nach VDI Richtlinie (Januar 2017) Produktmanagement: Einführung und Grundlagen. VDI 4520 Blatt 1 Bild 2, S.13

Das bedeutet zusammengefasst, dass der Prozess der Bekleidungsentwicklung bei weitem mehr beinhaltet als lediglich den Entwurfsprozess und den der technischen Umsetzung der Entwürfe. Nur wenn die Design Management- und Engineering-Perspektive als sich ergänzende Prozessabfolgen betrachtet werden, kann ein umfassendes Verständnis des Bekleidungsentwicklungsprozesses gewährleistet werden. Dieses umfassende Verständnis, diese ganzheitliche Sicht ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Digitalisierung der Bekleidungsentwicklung und ein umfassendes Product-Lifecycle-Management. Ein umfassendes Product-Lifecycle-Management ist wiederum die Voraussetzung für nachhaltige Produktentwicklung und Produktnutzung.