Sehen und urteilen

12.07.2012

Der Blick in die Augen ist auch der Blick ins Innere – hauptsächlich in realen Situationen. Auf Abbildungen oder Fotos lassen Augen, Mimik und das ganze Gesicht nicht immer eindeutige Bewertungen zu. Die Bedeutung von Blicken in Abbildungen und deren Interpretationsmöglichkeiten ist das Thema dieses Beitrages.

Seitdem wir Menschen oder vielmehr unsere Vorfahren in Höhlen lebten und überlebten kommt den Augen eine besondere Bedeutung zu: das schnelle Erkennen und Analysieren der Umgebung sowie das Mitteilen unserer innersten Befindlichkeiten. Diese spezielle Art des analytischen Sehens ermöglichte das Überleben. Diese Seherfahrung war so prägend, dass ein Teil unserer Einschätzungen und die daraus resultierenden Entscheidungen immer noch darauf zurückzuführen sind, obwohl wir inzwischen in einer völlig anderen Welt leben.

Augen als Spiegel der Seele

Augen sind die Schnittstelle zu unserem Inneren. Der Blick in das Auge unseres Gegenübers eröffnet einen Einblick in seine innere Welt, denn durch die Linse hindurch ist die Netzhaut sichtbar. Diese ist direkt über den Sehnerv mit dem Gehirn verbunden. Einige Wissenschaftler sind sogar der Meinung, dass die Netzhaut ein Teil des Gehirns darstellt[1]. Augenbewegungen, Stellung der Augenbrauen und Mimik drücken Empfindungen direkt aus. Sie zeigen die Innenwelt unseres Gegenübers. Diese Bewegungen erfolgen unbewusst und können nicht direkt beeinflusst werden. Weder Schminke noch Training würde es ermöglichen, mit unseren Augen etwas anderes auszudrücken als das, was wir spüren, empfinden oder vorhaben. Wir können durch einen tiefen Blick in die Augen einer anderen Person deren augenblickliche emotionale Lage erkennen und manchmal sogar Lüge von Wahrheit unterscheiden. Daher versuchen Schauspieler, nicht nur eine Situation zu spielen, sondern versetzen sich auch gefühlsmäßig in die durch das Skript vorgegebene Handlung hinein.


Abb. 1: Power, aufgeweckt, sportlich oder wird lediglich eine Grimasse geschnitten? (München, S-Bahnhaltestelle St. Martin Straße, Foto: Prof. Franz Tomaschowski)

In Abbildung 1 erkennen wir auf den ersten Blick, dass das Foto gestellt ist und das Fotomodell eine Grimasse schneidet. Die übertriebene Mimik wird sehr schnell als solche erkannt. Wir erkennen, dass dieser Ausdruck nur gespielt ist – keinesfalls echt. Daher erübrigt sich eine weitere Interpretation. Ein vergleichbares Gefühl kann sich mitunter beim Betrachten von historischen Stummfilmen einstellen mit dem Ergebnis, dass ein solcher Film inzwischen Langeweile auslösen kann.

Wir verfügen über ausreichend Erfahrungen, um Augen, die sich in Abbildungen, Fotos oder Zeichnungen befinden, zu deuten. Wir beziehen uns dabei immer auf unsere eigenen Seheindrücke, die wir, seitdem wir sehen können, unbewusst gesammelt und ausgewertet haben. Nun hat kein Mensch exakt die gleichen abgespeicherten Erfahrungen. Jeder hat im Laufe seines Lebens un- terschiedliche Situationen erlebt. Daher kann ein und derselbe Ausdruck von mehreren Personen unterschiedlich bewertet werden. Erst ein Austausch über das Gesehene schafft Klarheit. Trotz des großen Spielraums in der Bewertung lassen sich Trends erkennen.

Das isolierte Bild

Beim Betrachten einer Abbildung, wie beispielsweise einem Foto oder einem gedruckten Bild, wird lediglich der Sehsinn angesprochen. Alle anderen Sinne sind bei der Interpretation nicht beteiligt. Außerdem bleibt das Bild unveränderlich im Gegensatz zu einer realen Szene. Wir können den eingefrorenen Moment so lange betrachten wie wir wollen und immer mehr Informationen und Erfahrungen aus unserem Gedächtnis darüber abrufen. Die übliche Zeit für eine Bildanalyse dauert nicht länger als 0,2 Sekunden [2]. Dieser Zeitraum wird benötigt, um das betreffende Bild mittels der sakkadischen Augenbewegungen abzutasten. Je mehr Zeit wir uns für eine Bildanalyse nehmen, desto mehr Daten können wir aus unserer Erfahrung abrufen, um den Bildinhalt zu interpretieren. Je mehr Informationen vorliegen, desto differenzierter wird wiederum die Beurteilung des Bildes. So kann ein gewisser Interpretationsspielraum entstehen, die Abbildung kann als geheimnisvoll oder sogar als tiefsinnig empfunden werden.

So lässt es sich erklären, dass wir bei machen Abbildungen nicht nur eine einzige Deutung finden, sondern auch weitere Möglichkeiten erkennen. Unterschiedliche Gefühlszustände als Interpretation für eine einzige Abbildung sind keine Seltenheit.

Um zu klären, welche Interpretation die Richtige ist, ist ein Austausch mit anderen Betrachtern sinnvoll. So können wir lange und ausgiebig darüber diskutieren und unsere Seherfahrungen austauschen.

Das Live-Experiment

Betrachten Sie die Abbildung 2. Es wurde in „Neue Gesellschaft für Bildende Kunst e.V.“ in Berlin, Sommer 2011 im Rahmen der Ausstellung von Beate Geissler und Oliver Sann gezeigt. Ohne weitere Hintergrundinformationen ist der Gesichtsausdruck des abgebildeten Jungen schwer zu deuten. Die Mitarbeiterin der NGBK, Frau Lith Bahlmann fragte Besucher, wie das Bild auf sie wirke. Es wurden unterschiedliche Möglichkeiten genannt: Der abgebildete Junge lächelte, er wirke verkrampft, er habe versucht, etwas zusammenzubauen, was jedoch nicht funktionierte, er wirke sehr befriedigt, er habe in seinem Gesicht einen grausamen Zug.


Abb 2: Fotografie von Beate Geissler und Oliver Sann „SY MAN, 98“, 2001

Und Sie, sehr geehrte/r Leser/in, wie empfinden Sie den Ausdruck des Jungen? Solange Sie noch nicht weiterlesen haben Sie die Möglichkeit, das Portrait völlig frei und unbedarft zu interpretieren. Nehmen Sie sich die Zeit, das Bild völlig unvoreingenommen zu betrachten, bevor Sie die Hintergründe, die dazugehörige Legende, erfahren. Sobald Sie weitere Informationen über das Portrait erfahren, wird sich in der Regel Ihre Interpretation an die neuen Fakten anpassen. Die Situation, in der ein Bild entsteht, ist für die spätere Deutung sehr hilfreich. Eine weitere Veränderung in der Deutung ist möglich, wenn das Thema der Ausstellung bekannt ist. Auch das relativiert die Deutungsmöglichkeiten.

Die Auflösung ist folgende: Der Junge ist mit einem Computerspiel intensiv beschäftigt. Sein Ziel ist es, irgendwelche Feinde zu eliminieren. Dazu der Ausstellungstext: „Die Fotografie „SY-MAN, 98“, 2001, ist ein Porträt aus der Serie „shooter“, das den Teilnehmer einer LAN-Party zeigt, abgelichtet im Moment des Tötens im virtuellen Raum eines Ego-Shooter-Games. Sein Gesichtsausdruck zeigt ein etwas angespanntes, gleichwohl aufgeregtes, aber dennoch uneindeutiges Lächeln.“ Die Bedeutung des Bildes wird durch diese Beschreibung eindeutig und stark eingegrenzt. Das Thema der Ausstellung schafft einen weiteren Denkrahmen. „Volatile Smile“ thematisiert den spekulativen Charakter der Börsen als Auslöser von Finanzkrisen[3]. In solch einem Zusammenhang verändert sich die Bedeutung des Portraits ein weiteres Mal, das Bild wird zum Symbol für einen Spekulanten, der mit Aktien spekuliert und dessen Auswirkungen wir zu spüren bekommen.

Isolierte Sinne

Der Herr und die Dame in Abbildung 3 und 4 können sowohl freudig überrascht als auch erschreckt wirken. Freude und Trauer liegen als visueller Ausdruck eines Gesichtes sehr eng zusam- men. Gegensätzliche Einschätzungen sind daher durchaus möglich. Wir können nicht immer die gesehene Mimik der eigentlichen Emotion eindeutig zuordnen.

Wir stoßen oftmals an die Grenzen unseres Interpretationsvermögens, wenn wir unsere Informationen wie bei einer Abbildung ausschließlich aus einen Sinn, wie dem Sehsinn, beziehen. In der Realität sind immer sämtliche uns zur Verfügung stehenden Sinne beteiligt, um eine Situation einzuschätzen.


Abb 3 und 4: Diese beiden Portraits sind einem Plakat und einer Broschüre entnommen. Ohne den dazugehörigen Text sind mehrere Deutungsmöglichkeiten für die Mimik möglich (Abbildung 3: Ausschnitt aus einem Plakat der Verkehrswacht an der B15 vor Wasser- burg, Abbildung 4: Ausschnitt aus einer Postwurfsendung der Firma Netto in Dorfen)

Im Unterschied zu einer Abbildung unterliegt eine Szene, an der wir beteiligt sind, der Zeit. Eine Situation verändert sich ständig, mal langsam, mal schnell. In einem Bild, einem Foto beispielsweise, ist der Zeitfluss eingefroren. Der festgehaltene Moment ist unveränderlich.

Die gelenkte Interpretation

Um die fehlenden Informationen, die in einem Bild durch Sinneseindrücke sowie den Zeitfluss nicht mehr wahrnehmbar sind, zu kompensieren, gibt es eine sehr effektive Möglichkeit: Dem Bild werden erklärende Elemente hinzugefügt wie ein Text, ein Slogan oder eine Legende. Durch eine geeignete Erklärung lassen sich Fehlinterpretationen weitgehend vermeiden. Über diesen Weg ist es möglich, dass der Betrachter das Gesehene wie gewünscht interpretiert.


Abb 5: Mit den entsprechenden textlichen Botschaften wird die visuelle Wirkung der Gesichter eindeutig (Abbildung 5: An der B15 vor Wasserburg)

Abb 6: Mit den entsprechenden textlichen Botschaften wird die visuelle Wirkung der Gesichter eindeutig (Abbildung 6: Postwurfsendung in Dorfen)

Die beiden Portraits aus den Abbildungen 5 und 6 sind aus einem Plakat und einer Broschüre entnommen. Sobald der ursprüngliche Kontext wiederhergestellt wird, ist die Mimik der beiden Abgebildeten absolut eindeutig: Der junge Herr ist zu Tode erschreckt, schwebt in Lebensgefahr, hat jedoch seinen Fehler erkannt. Ob er aus dieser Situation unbeschadet herauskommt, ist ungewiss. Die junge Dame wirkt freudig überrascht, aufgrund der Angebote aus der Broschüre.


Abb 7 und 8: Deutlich verändert sich der Ausdruck von Matthias Richling zwischen Portrait und Plakat (München, Kunstpark Ost)

Nicht nur durch ergänzende Textinformationen, sondern auch durch ergänzende visuelle Details lässt sich die Mimik in die gewünschte Richtung lenken. Im Porträt wirkt Herr Richling (Abbildung 7 und 8) wesentlich souveräner als im Plakat für sein Programm. Die dem Plakat hinzugefügten Details gehen eine Wechselwirkung mit der Mimik ein.


Abb 9 und 10: Ungewöhnliche Motive schaffen die Aufmerksamkeit, die für ein Theater notwendig ist (München, Orléansplatz)

Ist jedoch die Abbildung von einem Gesicht sehr markant, wie in Abbildung 9 und 10, so können zusätzlicher Text und Grafikelemente den Ausdruck nicht wesentlich verändern.

Das ungesehene Portrait

Das Portrait in Abbildung 1 ist in einem Plakat für ein Fitnessstudio (Abbildung 11) integriert. Angebracht ist es an einer S-Bahnhaltestelle, also in einer Umgebung, in der sich täglich ein Strom von unzähligen Pendlern bewegt.


Abb 11: Mit diesem Plakat wird versucht, Menschen, die mit etwas völlig anderem beschäftigt sind, zu erreichen. (München, S-Bahnhaltestelle St. Martin Straße)

Die Aufmerksamkeit eines typischen Pendlers richtet sich an dieser Stelle nicht auf das Plakat, sondern eher auf seine eigenen Befindlichkeiten, die Herausforderungen des Tages oder den zu geringen Schlaf. Damit das Plakat überhaupt wahrgenommen wird, muss es schon eine solche übertriebene Mimik aufweisen. Der Standort eines Bildes ist für die Bildwirkung von großer Bedeutung. Ist der falsch gewählt, nutzt das beste Bild, nutzt die beste Bildunterschrift nichts. Das Bild selbst bleibt wirkungslos.

Der Blick in die Seele, der innere Beweggründe zeigen kann, ist nicht nur von der anderen Person abhängig. Umgebung, Situation, Erklärungen sowie eigene Vorerfahrungen sind maßgebliche Faktoren für eine Interpretation. So wie wir innerhalb eines Bruchteiles von Sekunden urteilen, ist die Gefahr der Vorverurteilung doch sehr hoch. Erst wenn wir uns intensiv mit dem Gesehenen auseinandersetzen haben wir die Chance, eine Mimik so zu deuten, dass sie dem Gegenüber nahekommt.

[1] Wie Professor Doktor Heinz Wässle mehrfach darlegt u. a. in der Zeitschrift Max Planck Forschung, Ausgabe 3, 2001 „Das Fotolabor Netzhaut“

[2] Link Biologische Psychologie

[3] Link für Kunstaspekte