Vorgestellt: Die vernachlässigten Top-Themen 2013 der Initiative Nachrichtenaufklärung
15.07.2013
Über Strafprozesse liest man auf allen Titelseiten, was mit den 100 Millionen Euro geschieht, die Gerichte darüber jährlich an Geldauflagen einnehmen, bleibt undurchsichtig. Das Spitzen-Thema auf der diesjährigen Liste der vernachlässigten Nachrichten lautet: „In Spendierroben: Wie Richter ohne Kontrolle Geld aus Prozessen verteilen“. Nach Ansicht der Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) werden auch in diesem Jahr wieder wichtige Themen von den deutschen Medien nicht oder zu wenig aufgegriffen. Am 11. Juli wählte die Jury der INA in Köln die Rangliste der wichtigsten von den Medien vernachlässigten Themen und Nachrichten im Jahr 2013. Die Ziele der Initiative erläutert Jurymitglied Christian Schicha in einem Interviews für den WDR.
Die zehn Top-Themen im Einzelnen:
1: In Spendierroben: Wie Richter ohne Kontrolle Geld aus Prozessen verteilen
Der Niedersächsische Landesrechnungshof stuft Richter als besonders korruptionsgefährdet ein. Denn: Sie entscheiden jedes Jahr über die Verwendung von ca. 100 Millionen Euro, die die Justiz als Geldauflagen in Prozessen einnimmt. Dieses Geld vergeben die Gerichte an gemeinnützige Vereine oder die Staatskasse. Wer wie viel Geld bekommt, entscheiden letztlich allein die Richter. Staatsanwälte haben nur ein Vorschlagsrecht. Inzwischen gibt es sogar Marketingunternehmen, die Vereinen helfen, auf die Empfängerlisten zu kommen. Über diese in jedem Gerichtsbezirk existierenden Geldflüsse wird in den Medien kaum berichtet.
2: Das Geschäft mit der Abschiebepraxis
Flüchtlinge mit abgelehntem Asylantrag werden mit Hilfe deutscher Fluglinien abgeschoben. Sammelabschiebungen werden als lukrative öffentliche Aufträge ausgeschrieben und von der Grenzpolizei Frontex bezahlt. In den Medien wird meist nur über Einzelfälle berichtet, zum Beispiel, wenn Abzuschiebende sich stark wehren und Piloten sich dann weigern, die Abschiebung durchzuführen. Vielen Reisenden in Deutschland ist daher vermutlich nicht bewusst, dass sie im gleichen Flugzeug mit Abschiebungspassagieren sitzen.
3: UN-Welternährungsprogramm ist intransparent
Eine der größten humanitären Organisationen der Welt, das Welternährungsprogramm (WEP) der Vereinten Nationen, hilft bei Hungersnöten in aller Welt. Die Nahrungsmittel, die in Krisenregionen geliefert werden, sollen dabei möglichst vor Ort bei Kleinbauern eingekauft werden. Zugleich hat das WEP aber die Vorgabe, immer die günstigsten Anbieter zu wählen. Am günstigsten können in der Regel Großkonzerne liefern. Wie das WEP diesen Widerspruch in seiner Beschaffungspolitik in der Praxis auflöst, ist nicht nachprüfbar. Die Verwendung der Mittel wird nicht offengelegt. Deutschland ist der sechstgrößte Geldgeber, dennoch berichten die Medien hierzulande nur vereinzelt über bestimmte Hilfsprojekte oder Großspenden.
4: Fehlende Kontrolle von Au-Pair-Agenturen in Deutschland
Etwa 8000 Au-Pairs kommen jedes Jahr nach Deutschland und arbeiten ungeschützt in einem weitgehend rechtsfreien Raum. Bis 2002 brauchten Agenturen, die Au-Pairs vermitteln, eine Lizenz von der Bundesagentur für Arbeit. Die Vermittlungsagenturen wurden regelmäßig von Mitarbeitern der Bundesagentur kontrolliert. Diese Lizenzpflicht und damit die staatliche Kontrolle fiel mit der Liberalisierung des Marktes für Dienstleistungen weg. Seitdem kann jedermann eine Au-pair-Vermittlung gründen. Voraussetzung: ein Gewerbeschein für rund 30 Euro. Inzwischen hat sich ein undurchsichtiger Markt von Vermittlungsagenturen in Deutschland gebildet. Darunter leiden viele Au-Pairs in Deutschland. In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Einzelfälle bekannt, bei denen Au-Pairs insbesondere aus Afrika misshandelt wurden.
5: Die gehörlose Generation
Zu laute Musik schadet dem Gehör. Laut einer Studie der Berufsgenossenschaft Bau ist inzwischen jeder vierte Jugendliche bereits vor Eintritt in das Berufsleben hörgeschädigt. 45 Prozent schätzen sogar die Lautstärke eines Presslufthammers (120 Dezibel) als ungefährlich ein. Die Folgen sind Erkrankungen, die zu Arbeitsausfällen und Kosten für das Gesundheitssystem führen. Obwohl Politik und Wirtschaft von der Problematik wissen, wird zu wenig unternommen, um die Verbraucher aufzuklären. Zwar dürfen Hersteller aufgrund einer EU-Richtlinie nur Geräte vermarkten, die einen Schalldruckpegel von maximal 85 Dezibel aufweisen, dennoch werden weiterhin von fast allen namhaften Herstellern Geräte produziert, die mittels weniger Handgriffe Musik lauter abspielen können.
6: E-Discovery: deutsche Unternehmensdaten für die USA
Aus Angst vor Sanktionen in den USA bereiten sich deutsche Unternehmen auf eine umfangreiche Datenoffenlegung auch von sensiblen elektronischen Geschäftsunterlagen vor. Hintergrund sind US-amerikanische Gesetze zur sogenannten „E-Discovery“, die schon im Vorfeld eines Gerichtsverfahrens die Offenlegung aller prozessrelevanten Daten inklusive elektronischer Daten von der Gegnerseite verlangen. Von diesem Prozess der elektronischen Aktenoffenlegung können alle deutschen Unternehmen betroffen sein, wenn sie Geschäftsbeziehungen in die USA haben – und entsprechend auch ihre Mitarbeiter. Dieses Verfahren ist mit deutschem Datenschutz nicht vereinbar. Deutsche Unternehmen müssen sich in den meisten Fällen einer E-Discovery beugen, um einen hohen Kostenaufwand und mögliche Sanktionen zu vermeiden.
7: Bonuszahlungen für Ärzte – auch bei nicht zugelassener Medikation
Krankenkassen in Deutschland zahlen Ärzten teils hohe Boni, wenn diese mit einem günstigeren Medikament therapieren. Belohnt wird dabei im konkreten Fall auch der Einsatz eines Medikamentes, das für diesen Zweck gar nicht zugelassen ist (sogenannter „Off-Label-Use“). Dadurch entsteht faktisch ein Anreiz, die geltenden Standards der Medikamenten-Zulassung zu umgehen. Über Bonuszahlungen an Ärzte wurde in Deutschland bisher vor allem berichtet, wenn die Zahlungen von Pharma-Unternehmen ausgingen. Dass auch die Kassen auf diese Weise Einfluss auf die Verschreibungspraxis nehmen, ist dagegen weitgehend unbekannt.
8: Voluntourismus: Geschäfte mit der guten Tat im Ausland
Gerade junge Leute wollen ihren Urlaub oder die Zeit nach dem Schulabschluss darauf verwenden, anderen Menschen in Entwicklungsländern zu helfen. Kommerzielle Reiseveranstalter bieten darum sogenannten “Voluntourismus” an. Doch anders als bei spezialisierten Hilfsorganisationen werden die Interessenten hier weder überprüft noch ausreichend auf ihren Aufenthalt vorbereitet. Kritische Tourismus-Organisationen stellen die Nachhaltigkeit und Wirksamkeit dieser meist auf kurze Zeit angelegten Einsätze in Frage. Gerade bei Tätigkeiten in Waisenhäusern oder Schulen wird diskutiert, ob der verursachte Schaden nicht den Nutzen des Voluntourismus übersteigt. Tourismusexperten sehen Aufklärungsbedarf.
9: Waffenexporte werden unzureichend kontrolliert
Deutschland ist der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Die Bundesregierung hat sich einem verantwortungsvollen Umgang mit Waffenexporten verschrieben. Die Außenwirtschaftsverordnung fordert von jedem Empfänger eines Waffenexportes eine Endverbleibserklärung. Länder, die deutsche Waffen gekauft haben, sollen nachweisen, dass sie diese so einsetzen, wie es mit der Bundesregierung abgesprochen wurde. Sie müssen zusichern, dass deutsche Waffenexporte nicht weitergehandelt werden und über Drittländer in Krisengebiete gelangen. Was in der Theorie gut klingt, scheitert in der Praxis immer wieder: Deutsche Waffen sind bei Kriegsverbrechen und Bürgerkriegen wie beispielsweise in Libyen, Georgien oder im mexikanischen Drogenkrieg zu finden.
10: Polizeiliche Demonstrationsverbote für rechtswidrig erklärt
Demonstrationsverbote beim G8-Gipfel in Heiligendamm hat das Oberverwaltungsgericht Greifswald in letzter Instanz im August 2012 für rechtswidrig erklärt. Im Juli 2007 trafen sich die Staats- und Regierungschefs der G8-Länder in Heiligendamm. Während dieses Gipfels kam es zu zahlreichen Protesten von Globalisierungskritikern. Die Polizeistrategie, richterlich genehmigte Demonstrationen vor Ort zu verbieten, wurde auch bei späteren Protesten in Dresden oder Frankfurt am Main angewandt. Die allgemeine Bedeutung des Greifswalder Gerichtsurteils wurde in den Medien kaum thematisiert.
Die INA
Die INA wurde im Mai 1997 gegründet. Kooperationspartner der Initiative ist das US-amerikanische “Project Censored”. Ziel der INA ist es, wichtige Nachrichten und Themen, die in den Medien nicht genügend berücksichtigt wurden, stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen – und Journalist(inn)en damit auf Exklusiv-Themen hinzuweisen. Medienschaffende, gesellschaftliche, wissenschaftliche und politische Institutionen, und auch alle Bürger(inn)en können bei der INA ihrer Meinung nach vernachlässigte Themen einreichen. Die Themenvorschläge werden von Studierenden in Recherche-Seminaren der beteiligten Hochschulen auf Richtigkeit und Vernachlässigung geprüft. Alle Themen, die dieser Prüfung standgehalten haben, werden der Jury der INA vorgelegt. Diese entscheidet dann über die gesellschaftliche Bedeutung der Themen, indem sie jeweils im Juli die Rangliste der vernachlässigten Top-Themen des vergangenen Jahres wählt und veröffentlicht.
Die Jury
Die Jury der INA setzt sich aus Wissenschaftler(inne)n und Journalist(inn)en zusammen, u.a. Dr. Tobias Eberwein (TU Dortmund), Prof. Dr. Peter Ludes (Jacobs University Bremen), Prof. Dr. Kim Otto (Monitor), Prof. Dr. Horst Pöttker (TU Dortmund), Prof. Dr. Christian Schicha (Mediadesign Hochschule), Rita Vock (Deutschlandfunk). Die ausführliche Top Ten aus dem Jahr 2013 sowie die Top-Themen der vergangenen Jahre sind online unter www.nachrichtenaufklaerung.de einzusehen. Dort sind für die einzelnen Themen auch die genauen Begründungen zum Sachverhalt, zur Relevanz und zur Vernachlässigung zu finden.
Weitere Links:
Interview für den WDR
www.nachrichtenaufklaerung.de
Interview mit Christian Schicha für das DRadio Wissen