Das Schöne und das Biest
02.12.2015
Ein Essay über John Gallianos erste Artisanal-Kollektion für das Maison Margiela und die Frage nach der Möglichkeit dieser unmöglichen Fusion
Am 12. Januar dieses Jahres zeigte das Maison Margiela in London die Haute Couture-Kollektion für die Saison Frühjahr/Sommer 2015. Die Kollektion, die zur Artisanal-Linie gehört, war die erste, die der Designer John Galliano für das Haus entworfen hat. Das Galliano für das Maison Margiela entwirft, war für viele Modefachleute eine Überraschung. Zum einen, weil sich das Maison seit Martin Margielas stetigem Rückzug dadurch gekennzeichnet hat, dass ein anonymes Team die Kollektionen entwirft, und zum anderen, weil John Galliano auf den ersten Blick eine absurde Wahl zu sein scheint. Eine Wahl, die Renzo Rosso getroffen hat, der Gründer von Diesel und Inhaber der Holding-Gesellschaft „Only the Brave“, zu der das Maison Margiela seit 2002 gehört. Renzo Rosso ist laut eigener Aussage "ein verrückter Hund" (FAZ.Net 2015) und vielleicht braucht es einen verrückten Geist, um so ein gegensätzliches Paar zusammenzubringen – und das nicht nur aus Spaß, sondern als ökonomischen Schachzug.
Einem nicht verrückten Hund erschließt sich die mögliche Cleverness dieses Spielzugs nicht auf den ersten Blick. Aus gutem Grund, denn Martin Margiela und John Galliano sind scheinbar wie Öl und Wasser – zwei Elemente, die sich nicht vermischen lassen. Margiela steht für eine intellektuelle Mode, die sich in abstrakten Konzepten zeigt, Galliano steht für opulenten Eklektizismus. Das lässt sich nicht nur an ihren Kleidern ablesen, sondern auch an den unterschiedlichen Inszenierungsstrategien. Der eine, Martin Margiela, will über seine Kollektionen und Präsentationen seine Ideen visualisieren, der andere, John Galliano, seine Visionen – oder sind es Fieberträume?
Falls Renzo Rosso das richtige Gespür hatte, lassen sich die beiden Modekonzepte trotzdem oder gerade wegen ihrer Gegensätzlichkeit vereinen. Zentral für diesen Text ist die Frage: Was entsteht, wenn das Enfant Terrible der Mode (John Galliano) für den Zentempel des Modedesigns (das Maison Margiela) Kleider entwirft?
Um das herauszufinden, gilt es zuerst eine Vorstellung zu entwickeln, wer die Protagonisten sind und welche gestalterische Herkunft sie haben.
Das Schöne – Martin Margiela
Martin Margiela (*1959 in Belgien) hat an der berühmten Royal Academy of Fine Arts (Koninlijke Academie) in Antwerpen Mode studiert. Durch ihn und die so genannten „Antwerp Six“ ist die Schule weltbekannt geworden und Belgien zur Wiege der europäischen Avantgarde-Mode.
Nach seinem Studium hat Margiela zwei Jahre für Jean Paul Gaultier gearbeitet (1985-1987) und dann 1989 die erste Kollektion unter seinem Namen gezeigt.
Martin Margiela ist der Prototyp des Modedesigners als Konzeptkünstler. Zumindest ist dies das durchgängige Etikett, das ihm von Journalisten und Modedenkern zugeschrieben wird. Das liegt an der Rigidität seiner intellektuellen Gestaltungskonzepte, an der Spezifik seines Auftretens, und, nicht zuletzt, daran, dass er zur richtigen Zeit am richtigen Ort war.
Seine Karriere begann in den achtziger Jahren, einer Zeit, in der die Modewelt bereit war für einen Umbruch und für einen neuen Designertypus. Die japanischen Designer hatten das Feld für innovative Modeideen bereitet und dieses merkwürdige Land Belgien hatte keine Modetradition, die irgendeine Form von Linientreue von Margiela erwartet hätte. So konnte er einen Modestil entwickeln, der sich nicht an den Idealen der Pariser Luxusmode orientierte. Er nahm sich die Freiheit, die Ideen von Kawakubo, Miyake und Co. aufzugreifen, um sie in seinem Sinne weiterzuentwickeln.
Aber was bedeutet es überhaupt, wenn Mode als Konzeptkunst bezeichnet wird und ein Modedesigner als Künstler? Konzeptkunst ist, grob formuliert, eine Kunstrichtung, die die Idee und das daraus resultierende Konzept in den Mittelpunkt der künstlerischen Arbeit stellt. Das Produkt ist nicht per se nebensächlich, kann aber zweitrangig sein, beziehungsweise gar nicht existieren. Konzeptkunst diskutiert die Frage, was Kunst ist, und geht auf eine kritische Suche nach Essenz und Funktion von künstlerischen Prozessen und Kunstwerken. Folgt man diesem Gedanken, dann stellt Konzept-Mode die Frage „Was ist Mode?“ und diskutiert diese Frage zum Beispiel über offengelegte Gestaltungsprozesse und über die Umsetzung und Kommunikation der Produkte. Martin Margiela gilt als Meister dieser Modepraxis, wobei es unklar ist, ob er das selbst genauso sieht. Was und wer Margiela ist, bleibt immer Interpretationssache, immer etwas, was ihm andere zuschreiben, er selbst schweigt. Er ist dafür bekannt, dass er keine Interviews gibt und es existieren nur zwei, drei Fotos, die ihn in frühen Jahren zeigen. Man muss sich Margiela über seine Arbeit nähern. Das Maison Margiela produziert vier verschiedene Kollektionslinien, dazu kommen Brillen, Schmuck und Parfum.
Besonders interessant sind die Haute Couture Kollektionen des Maison Margiela, die "Artisanal" genannt werden. Eines der generellen Merkmale der Haute Couture ist es, dass sie dem jeweiligen Designer die größte gestalterische Freiheit gewährt. Die Haute Couture Kollektionen von Margiela sind eine sehr elaborierte Form dessen, was aktuell als Upcycling bezeichnet wird. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass gebrauchte Materialien zu neuen Kleidungsstücken verarbeitet werden. Eine frühe Arbeit waren Pullover, die aus benutzten Armeesocken zusammengesetzt wurden. Später gab es eine Weste, die aus zerbrochenem Porzellan konstruiert wurde oder eine Jacke, die aus dicken Motorradhandschuhen zusammengesetzt war. Es entstehen so Couture-Modelle, die mit der gleichen akribischen Handarbeit hergestellt werden wie die Couturekleider der Pariser Designer, aber aus banalen Materialien gearbeitet sind. Interessant ist, dass Margiela das Recycling als rein ästhetische Praxis betreibt, die komplett außerhalb des Kontextes „Nachhaltigkeit“ stattfindet. Das große Trendthema, das seit den 2000er Jahren auch in der Mode zur ökologischen und ethischen Verantwortung mahnt, war in den achtziger Jahren nicht relevant. Margiela benutzt das Recycling als künstlerische Strategie innerhalb des Entwurfssystems der Mode, um Fragen an die Mode zu stellen und über die Entwicklung neuer Formen und Erscheinungsbilder Antworten vorzuschlagen. Von Joseph Kosuth, einem prominenten Vertreter der Konzeptkunst, gibt es den Ausspruch, dass er sich mit der „Untersuchung der Natur der Kunst“ beschäftigt. Übertragen auf die Arbeitsweise Margielas bedeutet das, dass sich Margiela mit einer "Untersuchung der Natur der Mode" auseinandersetzt. Das heißt, dass er unter anderem versucht herauszufinden, wie unterschiedliche Materialien (textile und nicht-textile) auf eine bestimmte Formgebung reagieren, und was diese spezifische Form mit dem Körper des Trägers macht. Wobei das Ziel der Untersuchung nicht ist, eine ästhetisch gefällige Form zu finden, die dem Körper des Trägers oder der Trägerin schmeichelt und sie klassisch „verschönert“. Das Ziel ist vielmehr eine Analyse des Spektrums der Formgestaltung von Kleidung und ein Ausloten der Grenzen dieses Spektrums.
Die Zuschreibung, dass Martin Margiela ein (Konzept-)Künstler unter den Designern ist, beschreibt nicht nur seine Arbeitspraxis, sondern zeichnet auch einen besonderen Status aus. Ein Künstler steht in der Rangordnung der Kreativen über einem Designer, zumindest was seinen ideellen Status angeht. Und weil er als Künstler gesehen wird, haben auch seine Entwürfe einen hohen Stellenwert und sind in der Modefachwelt sowie bei seinem Publikum sehr angesehen. Ein weiterer Aspekt, der diese Wertigkeit verstärkt, ist die Tatsache, dass die Mode Margielas sehr sachlich und „undekoriert“ gestaltet ist. Man kann auch sagen, sie ist unweiblich, zumindest wenn man die Idee des Weiblichen mit Dekoration und Glamour verknüpft. Im Umkehrschluss wirkt eine Gestaltung männlich und seriös, wenn sie klar und sachlich ist.
Mit dieser Dichotomie weiblich/dekorativ vs. männlich/sachlich beschäftigt sich die Modetheoretikern Barbara Vinken in diversen Texten. Sie stellt fest, dass andere Modetheoretiker dazu neigen, eine männlich-sachliche Mode als modern wahrzunehmen, und diese ernster nehmen als eine als dekorierte weibliche Mode, die als oberflächlich gilt. Sie proklamieren, dass die weibliche Mode erst in der Moderne ankommt, wenn sie sich vom Dekorativen löst. Der Argwohn gegenüber dem Dekorativen, dem auch eine Form der Angst innezuwohnen scheint, ähnelt aus Vinkens Sicht dem Argwohn gegenüber dem Exotischen, dem Orient. Das klischeehafte Bild des Orients zeichnet eine überladene Welt des schönen Scheins, die, gleich einer Frau, mit ihren übertriebenen Reizen verführen will. Dem gegenüber steht die männliche westliche Welt mit ihrer Klarheit und seriösen Dominanz.
Folgt man dieser Kategorisierung, dann lässt sich die Mode Martin Margielas wegen ihrer Schnörkellosigkeit und Sachlichkeit dieser männlich-westlichen Seite zuordnen, die exotische Mode Gallianos der weiblich-orientalischen. Diese Zuordnung kann in diesem Kontext diffamierend sein und zugunsten des Künstlers Margiela getroffen werden, allerdings nur, wenn man die aufgestellten Kategorien nicht hinterfragt und an ihre Stabilität glaubt. Vinken tut das nicht. Sie teilt weder den Argwohn gegenüber dem Exotischen, noch glaubt sie an die Stabilität der westlichen Dominanz. Im Gegenteil, sie hält die Konstruktionen für höchst prekär. Eine Begründung für diese Instabilität formuliert Vinken mit der These, dass die Konstruktionen auf keine Essenz zurückgehen, sie sind nicht „natürlich“ und damit sind sie auch nicht stabil. Sie sind angreifbar und in dieser Angreifbarkeit sieht Vinken eine Möglichkeit die Kategorien zu unterminieren.
Bezogen auf John Galliano und seine Mode könnte dies bedeuten, dass seine übertriebenen exotischen Phantasien nicht nur als oberflächlicher Modezirkus gelesen werden können, sondern dass sie das Potential haben, die überkommenen Konstruktionen, mit denen wir Mode kategorisieren infrage zu stellen. Das öffnet einen neuen Blick auf seine Arbeit. Gallianos Bilderrausch wird erweitert um eine subversive Kraft.
Das ist interessant, aber trotzdem bleibe ich eine bekennende Margielanerin. Als Modedesignerin, die in den 80er und 90er Jahren sozialisiert wurde, ist Martin Margiela für mich ein Held. Ein verehrenswerter Held, der berührt, obwohl seine Mode so trocken sein kann wie ein Zwieback. Und deshalb wird er in diesem Text als „das Schöne“ geführt, eine absolute Behauptung, die Verehrung ausdrücken soll, obwohl seine Mode alles andere ist als schön. Sehr schön dagegen ist die Mode von John Galliano. Er ist „das Biest“, das sich in schwülstigen Orientphantasien ergeht. Galliano ist nicht wie Zwieback essen, sondern Sahnetorte. Eine Sünde, aber auch sündigen macht hin und wieder Spaß.
Das Biest – John Galliano
John Galliano (*1960 in Gibraltar) hat an der anderen berühmten Designschule Europas Mode studiert, am Central St.Martin’s College of Art and Design in London. Elf Jahre nach seinem Abschluss und nach einigen aufsehenerregenden Kollektionen unter seinem Namen, wurde er 1995 Chefdesigner bei Givenchy. Dort blieb er ein Jahr, um seinen Platz dann an Alexander McQueen abzugeben und zu Dior zu wechseln. Bis zu seinem Rausschmiss am 1. März 2011 prägte er erfolgreich den Stil des Hauses, dem er seinen eigenen Stempel aufdrückte.
Der typische Galliano Look ist spektakulär, überbordend und sehr weiblich. Stilprägend für seine Mode ist das hemmungslose zitieren historischer Epochen und ethnischer Kleiderformen. Hier kommt es zu wilden Zusammenführungen, die eklektischer nicht sein könnten. Würde er sich nicht im geschützten Rahmen der Modewelt bewegen, wäre sein hemmungsloses Ausschlachten der Kulturgeschichte die pure Provokation.
Gallianos Etikett ist passenderweise das des Enfant Terribles der Mode. Ein schreckliches Kind, das sich nicht an Regeln hält. Zu seiner Zeit bei Dior hat er dafür Respekt und Bewunderung geerntet. Sein nonkonformistischer Umgang mit der Tradition des Hauses hat die Popularität der Marke erneuert und vorangetrieben. Dabei war er immer respektvoll, obwohl er die gestalterische Maxime Christian Diors ("Das Geheimnis der Eleganz liegt in der Schlichtheit") klar übertreten hat.
Wenn man über Margiela sagt, dass es nicht sein Ziel ist an der Verschönerung der Frau, die seine Kollektionen trägt, zu arbeiten, könnte man bei Galliano auf den ersten Blick vermuten, dass dies sein einziges Ziel ist – und zwar nach dem Motto „viel hilft viel“. Ein interessanter Moment entsteht, wenn "viel" so viel ist, dass der Entwurf in eine übersteigerte Groteske kippt. Dann kann ein weibliches Model auf dem Laufsteg aussehen wie eine Dragqueen und die Grenzen dessen, wie Weiblichkeit definiert wird, verschwimmen. Das ist interessant, weil eine Irritation entsteht, hervorgerufen durch eine sinnliche Überforderung, die den Betrachter dazu animieren kann, Fragen an die Mode zu stellen. Das ist der subversive Moment den Barbara Vinken beschreibt. Das John Galliano bewusst nach diesem prekären Moment sucht, ist eher unwahrscheinlich. Zumindest erzählt er von anderen Dingen, wenn er von seiner Mode spricht.
Im Gegensatz zu Margiela ist Galliano in der Modewelt eine sehr präsente Figur, die gerne über ihre Mode Auskunft gibt. Ein Beispiel hierfür ist eine Dokumentation des britischen TV-Kunstmagazins „The South Bank Show“ von 1996, die Galliano ein Jahr lang bei seiner Arbeit begleitet. Gallianos Art über seine Mode zu sprechen, ist in den Interview-Sequenzen immer ganz nah am Modeobjekt, sehr beschreibend und eher selten reflektiert. Es geht ihm nicht um eine Metaebene, sondern er spricht über Farben, Materialien, Schnitte und seine Inspirationen. Er ist stets in Bewegung und hantiert ständig an seinen Modellen herum, um etwas zu erklären. Man spürt seine Leidenschaft und es macht Spaß, ihm zuzusehen. Er lebt für seine Mode und ist offensichtlich ein großer Handwerker und ein Meister der Schnitttechnik. Galliano hat in den 90er Jahren eine Renaissance des Schrägschnitts eingeläutet, eine Methode, bei der der Stoff schräg zum Fadenlauf des Stoffes zugeschnitten wird, was den Effekt hat, dass sich das fertige Kleid fließend an den Körper anpasst. Bei Galliano geht es um Körper und Eleganz und Sinnlichkeit.
Um all diese Dinge geht es bei Margiela nicht. Das zeigt sich nicht nur in seiner Mode, sondern auch in seinen Inszenierungsstrategien. Körper sind bei Margiela neutrale Kleiderträger, die in den Hintergrund treten, ähnlich einer Schaufensterpuppe. Ihr Fleisch ist kalt und ihnen fehlt jede sinnliche Ausstrahlung. Dieses Konzept zieht sich durch alle seine Modepräsentationen, hier soll es am Beispiel der Artisanal-Kollektion von 2009 dargestellt werden, für die noch das Designerteam um Margiela verantwortlich war.
Maison Margiela - Artisanal Autumn-Winter 2009
Die Inszenierung der Haute Couture Modelle fand im Freien bei Tageslicht auf einer größeren Außenfläche eines historischen Gebäudes statt, mit Blick auf den Eiffelturm. Auf den Fotos des Events erkennt man eine terrassenähnliche Fläche, die einen rechteckigen Pool mit kleinen weißen Kacheln umschließt. Um den Pool herum ist ein Laufweg frei gelassen für die Models. Außen ist der Weg von weißen Plastikstühlen gesäumt, die während der Show leer bleiben. Dies wäre der perfekte Ort um dem Publikum eine Betrachterposition in der ersten Reihe zu gewähren, stattdessen sitzen die Zuschauer entrückt von der zentralen Präsentationsfläche.
Eine klinische Kälte vermittelt sich über die Bilder der Show. Die Models tragen fast ausnahmslos hautfarbene Bodys und eine hautfarbene Maske über dem Gesicht, die einem profanen Zugbeutel gleicht. Die Bodys sind aus einem blickdichten Material, das eine stumpfe Anmutung hat. Dazu haben sie nackte Beine und laufen in unspektakulären hautfarbenen Pumps um den Pool. Jedes Model präsentiert nur ein Kleidungsstück, welches konzentriert in den Mittelpunkt gerückt wird.
Die Bodys der Models rufen eine Assoziation mit den Showbodys von Eiskunstläuferinnen hervor. Von weitem sind das glamouröse Glitzerträume, die viel Haut freilassen, aber wenn eine Kamera zu nah heran kommt, offenbart sich, dass vermeintlich nackte Hautpartien, z.B. das Dekolltée, von einem dichten hautfarbenen Stoff überzogen sind, der aus der Nähe betrachtet, die ganze elfenhafte Sinnlichkeit zunichte macht. Die Profanität und Dichte des Materials zerstört die Illusion, ein Effekt, der beim heranzoommen an die Eisprinzessinnnen ungewollt auftritt, aber bei der Inszenierung der Artisanal-Kollektion bewusst eingesetzt wird. Es gehört zum Konzept des Hauses Margiela, dass die einzelnen Kleidungsstücke das zentrale Objekt der Inszenierung sind. Ihre Aura wird nicht durch eine spektakuläre Show überhöht, oder durch die Sinnlichkeit eines Models. Es geht nicht darum Illusionen zu verkaufen - es geht um die nackte Wahrheit des jeweiligen Kleidungsstücks. In dieser Kollektion sind das viele Oberteile. Ein Model trägt eine blousonartige Jacke, die aus den blauen Kappen von Kugelschreibern (wahrscheinlich der Marke BIC) hergestellt ist. Es sind viele Kappen, aber selbst in dieser Menge haben sie nur einen minimalen monetären Gegenwert, es sind Pfennigprodukte, die hier für ein Haute-Couture Modell verarbeitet wurden.
Die Transformation gelingt, weil es bei Margiela nie um die Wertigkeit des Materials geht, sondern um die Wertigkeit des Gestaltungskonzeptes. Die Stärke des Konzeptes liegt in seiner Konsequenz. Obwohl die Kappen auf irgendeine Art und Weise miteinander verbunden sind, bleibt diese Verbindung unsichtbar. Der Betrachter sieht nur Kappen und die Struktur, die sich aus ihrer Reihung ergibt. Ansonsten nichts, kein anderes Material, keine Verschlüsse, keine Dekoration, kein anderes Kleidungsstück, nichts, außer pures Kappenblau.
Das Blau erinnert an Yves Klein. Der Künstler gilt als einer der Wegbereiter der Minmal Art, aus der wiederum die Konzeptkunst hervorgegangen ist. Das kann Zufall sein oder ein humorvolles Augenzwinkern des Designteams. Denn trotz ihrer zwiebackigen Trockenheit hat die Mode von Margiela Humor. In dieser Kollektion zeigte er sich in Form eines Mantels, der aus einem furchtbaren Fliegenvorhang für Türen konstruiert wurde. Ohne Humor kann man dieses Material nicht aushalten, vor allem, weil die Hässlichkeit durch nichts abgemildert wird, auch hier gab es keine zusätzlichen Elemente.
Auch hier herrscht Konsequenz als Konzept. Das ist eine der Stärken des Künstlers Margiela. Die Stärke Gallianos hingegen ist nicht Konsequenz, sondern etwas, das als Anti-Konsequenz bezeichnet werden kann. Oder als Hemmungslosigkeit. Oder als Rausch. Im Rausch liegt die Kraft des Grenzüberschreitenden, das eine andere Form von Modernität erzeugen kann, die sich nicht auf Sachlichkeit stützt. Was das Ergebnis ist, wenn diese beiden Modekonzepte aufeinandertreffen, lässt sich an der eingangs erwähnten ersten Kollektion John Gallianos für das Maison Margiela darstellen.
Maison Margiela - Artisanal Spring-Summer 2015
Die Show fand am Rand der London Fashion Week in einer kühl und modern wirkenden Location statt. Die Fotos und Videos von dem Event zeigen einen kastigen Raum mit weißen Wänden, ähnlich einem White Cube. Der Bodenbelag besteht aus matt-silbernen Metallplatten, dazu wurde helles Licht eingesetzt, das den gesamten Raum mit der gleichen Stärke erleuchtet. Das pure Ambiente passt zu der Tradition des Maison Margiela, aber schon das Styling der Models deutet einen Bruch mit dieser Tradition an: Sie haben ein Gesicht.
Margiela hat eigentlich immer die Gesichter der Models verhüllt, sei es durch die erwähnten Gesichtsmasken, oder dadurch, dass die Gesichter der Models komplett durch Haare verdeckt waren. Die Mode sollte für sich sprechen.
Galliano und seine Stylisten finden einen Kompromiss - einige der Models haben ein paar zauselige Strähnen im Gesicht hängen, nur ein einziges trägt eine Maske. Das ist kein starkes Konzept, sondern eine halbherzige Reminiszenz. Und diese Halbherzigkeit ist Programm. Sie setzt sich fort in den Modellen der Kollektion, die wie wildgewordene Collagen daherkommen. Alles ist irgendwie schräg und ohne erkennbaren Sinn dekonstruiert. Ein Outfit besteht aus einem umgestülpten Sakko ohne Innenfutter. Es wird nicht als Sakko getragen, sondern als Teil eines Kleides. Der Kragen ist auf Brusthöhe an einer Bustier-Konstruktion befestigt, von wo aus das Sakko einfach runterhängt. Das Innenleben des Sakkos mit Roßhaar-Einlagen ist sichtbar. Die "Schiffchen" an den Schultern werden in dieser Dekonstruktion zu Augenlidern, zwei weißlackierte Muscheln, die darunter befestigt sind, zu Augäpfeln. Rote Plastikwimpern runden den Entwurf ab. Das ist im besten Fall lustig, im schlimmsten eine Persiflage auf die Praxis Margielas, banale oder gefundene "Dinge" in einen Entwurf zu integrieren. Eine Persiflage deshalb, weil die Art und Weise, wie die Muscheln integriert sind so albern ist und keinen weiteren Sinn ergibt, außer einen kurzen Effekt zu erzeugen.
Das Herauskehren des Innenlebens von Kleidung als Gestaltungsstrategie ist in der Mode ein alter Hut, diese Idee existiert spätestens seit den 80er Jahren. Ein innovativer Entwurf in diesem Kontext bedarf einer intensiven Auseinandersetzung, die hier nicht erkennbar ist. Ein anderes Modell ist ein knielanger roter Mantel. Der Mantel ist eine Trenchcoat-Variante mit großen Aufschlägen an den Armen, die an Korsarenmäntel erinnern. Ein historischer Moment, der bei Margiela gefehlt hat. Margiela ist immer Jetztzeit. Das klingt paradox, weil das recycelte Material bereits eine Geschichte hat. Aber obwohl die Materialien der Modelle eine Geschichte haben, erzählen die Kleider, die aus ihnen entstehen, nicht von Geschichte. Die Formen sind immer aktuell, nie historisch.
Gallianos Mantel hat auf der Vorderseite eine großflächige Applikation, ein Gesicht, das aus rotlackierten Muscheln zusammengesetzt ist. Es springt einem mit einer Massivität entgegen, die einer gewissen Radikalität nicht entbehrt. Hier klingt das Übertriebene an, das bei Galliano so kraftvoll ist. Und hier liegt das Problem, es ist Galliano-Style und hat nichts zu tun mit dem, wie Margiela ein Material durchdekliniert. Dem Modell fehlt die konzeptuelle Strenge, die sich darin ausdrücken könnte, dass eine Vielzahl gleichgroßer Muscheln einen ganzen Mantel ergeben. In dem Fall wären die Muscheln keine dekorative Applikation, sondern sie würden den Mantel ausmachen. Das Vereinheitlichen der verschiedenen Muscheln mit der roten Lackfarbe ist auch keine Hilfe. Es kommt lediglich einem Überpinseln gleich, das die fehlende Klarheit vertuscht. Klarheit ist kein Attribut von Gallianos Arbeitsstil. Er denkt sein Mode nicht, sondern fühlt sie. Er ist handwerklich akribisch, aber kein Intellektueller.
Für das Maison Margiela versucht Galliano einen Spagat, der nicht gelingen kann, weil er sich selbst verleugnet. Ein passendes Bild hierfür, ist seine Verneigung am Ende der Show. Er trägt einen weißen Kittel, ganz nach Tradition des Hauses Margiela, wo alle Mitarbeiter einen solchen Kittel tragen – die Margiela-Uniform. Das Galliano ihn trägt soll seinen Respekt für das Haus und den Meister ausdrücken, und das ist sicher auch ernst gemeint. Aber der Kittel wirkt bei Galliano eben auch wie eine Zwangsjacke, die das Erbe des Hauses symbolisiert, das ihn in seiner Formsprache beschneidet.
Ein Ausblick zum Schluss
Es bleibt noch die Frage zu beantworten, ob Renzo Rosso ein verrückter Hund ist, der den richtigen Riecher hatte, oder einfach nur ein verrückter Spinner. Wahrscheinlich kommt das darauf an, was Rossos Ziele waren. Wenn er im Sinn hatte, das Maison Margiela in seiner Tradition weiterzuführen, dann war sein Instinkt fehlgeleitet. Wenn er den gefallenen Designer Galliano rehabilitieren wollte (Das Unternehmen Dior trennte sich von Galliano, weil er in einer Kneipe schlimmste Naziparolen geschmettert hatte), um mit einem der begabtesten zeitgenössischen Designer Geld zu machen, dann war es vielleicht ein strategisch richtiger Zug. Die aktuelle Maison Margiela Womenswear für die Saison Frühjahr/Sommer 2016 lässt etwas davon erahnen. Moderne Geishas wandeln über den Laufsteg und verbreiten eine eindeutige Galliano-Atmosphäre. Das ist sein Thema. Eine historisch-exotische Inspiration symbolisiert durch verführerische Frauenfiguren. Das ist keine Entwicklung in Richtung Margiela, aber eine Entwicklung, die auf eine modernere Version dessen hinweist, was Galliano verkörpert. Darauf kann man sich mit einem weinenden Auge freuen, nachdem man sich innerlich von Margiela verabschiedet hat.
Quellenverzeichnis
Literatur
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Abbildungen
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